November 2012: Familiengeschichten

Roger Deakins schafft Kunstwerke mit seiner Kamera

Der 23. Film der James-Bond-Reihe war wohl das Kino-Großereignis des Novembers. Skyfall ist nicht nur einer der erfolgreichsten Filme des Franchises, sondern erntete auch vorwiegend exzellente Kritiken. Für mich war Skyfall das erste Bond-Abenteuer, das ich aktiv wahrgenommen habe. (Ich meine, Teile von Goldeneye gesehen zu haben.) Mein erster (und bleibender) Eindruck: Der Film sieht verdammt gut aus. Kameramann Roger Deakins, der regelmäßig mit den Coen-Brüdern zusammenarbeitet (No Country For Old Men, A Serious Man), zaubert mehrere filmische Gemälde auf die Leinwand. Eine fast stumme, herrlich choreographierte Actionsequenz in einem neonbeleuchteten Hochhaus in Shanghai, die verlassene Insel von Bösewicht Silva (Javier Bardem, Biutiful), und vor allem das Finale in der brennenden schottischen Landschaft bleiben in Erinnerung. Die Handlung schafft das leider nicht. Bond (Daniel Craig) versucht, eine gestohlene Liste mit den Namen der Geheimagenten von MI-6 wiederzubeschaffen. Dabei wird die Beziehung zu seiner Ersatzmutter M (Judi Dench, Chocolat) auf die Probe gestellt. So ganz kann sich Regisseur Sam Mendes (American Beauty, Revolutionary Road) zwar nicht entscheiden, ob Skyfall mehr Drama oder Komödie sein soll; als Actionfilm funktioniert Skyfall trotzdem ziemlich gut.
8/10

Kym (Anne Hathaway) und Rachel (Rosemarie DeWitt)

In Rachel Getting Married begleiten wir Rachel (Rosemarie DeWitt) und ihre wohlhabende Familie durch ein paar Tage um Rachels titelgebende Hochzeit. Zentrum der Geschichte ist jedoch Kym (Anne Hathaway, The Dark Knight Rises), Rachels jüngere Schwester, die nach Alkohol- und Drogenproblemen frisch von einem mehrmonatigen Reha-Aufenthalt für dich Hochzeit heimkehrt. Rachel Getting Married hat mich begeistert, weil Jonathan Demme (The Silence of the Lambs) nicht überheblich-satirisch hinter die idyllische Vorstadtfassade blickt, sondern seine Figuren ernst nimmt, sie respektiert. Er gönnt ihnen das Glück einer lebensfrohen, multikulturellen Hochzeit, gleichzeitig lässt er sie größte Schmerzen durchleben, die durch Kyms Rückkehr ausgelöst werden. Mit einer Handkamera begleitet er das Geschehen, nimmt sich auch gerne 15 Minuten Zeit, die Stimmung des Festes einzufangen und schafft damit einen wunderbar naturalistischen, kleinen Film mit phantastischen Darstellern: Anne Hathaway zeigt, dass sie als Schauspielerin ernst genommen werden sollte, Rosemarie DeWitt portraitiert subtil die komplexe Hassliebe zwischen Geschwistern und Debra Winger als distanzierte Mutter dominiert ihre wenigen Szenen eindrucksvoll.
9/10

ArgoBen Afflecks dritter Film als Regisseur, wird vielerorts als Oscarfavorit gehandelt. Die „wahre Geschichte“ (der Begriff wird hier ein weiteres Mal stark gedehnt) erzählt von Tony Mendez (Affleck), der sechs amerikanische Botschaftsmitarbeiter, die bei einer Geiselnahme in Teheran entkommen konnte, aus dem Iran schleusen will. Dazu gibt er vor, den Science-Fiction-Film „Argo“ in Teheran drehen zu wollen. Argo hat Humor, gute Darsteller, ist liebevollst ausgestattet und vor allem mitreißend. Am Ende bleibt aber doch „nur“ ein exzellent umgesetzter Unterhaltungsfilm, der ein paar holprige Versuche unternimmt, seinen Charakteren Tiefe zu vermitteln.
8/10

Carrie (Sissy Spacek) als Prom-Queen

Brian De Palmas Verfilmung von Stephen Kings Roman Carrie gilt als Meilenstein des Horrorfilms. Beängstigend ist der Film vor allem, weil Sissy Spacek ihre Titelfigur so menschlich anlegt. Carrie bringt Tod und Verwüstung, gleichzeitig ist sie das Opfer ihrer Mitschüler und ihrer fanatischen Mutter (Piper Laurie, Twin Peaks). Warum für kommendes Jahr ein Remake angekündigt wurde, bleibt ein Rätsel. Carrie mag nicht der spannendste Beitrag zum Genre sein; das liegt aber kaum am Alter des Film, sondern eher an der Buchvorlage. Und optisch ist Brian De Palmas High School Albtraum immer noch eine Augenweide.
8/10

Um den deutschen Film steht es meiner Meinung nach immer noch schlecht. Mit Oh Boy legt Jan-Ole Gerster jedoch einen vielversprechenden Debütfilm vor. Er lässt seinen Protagonisten Niko Fischer (großartig: Tom Schilling) durch Berlin streifen, immer auf der Suche nach dem wohlverdienten Kaffee. Niko ist Ende 20, hat sein Studium abgebrochen, und weiß nicht, wohin das Leben gehen soll. Im episodenhaft aufgebauten Film erlebt er teils urkomische Situationen, begegnet immer wieder einsamen Menschen und ist am Ende auch nicht schlauer. Ob Oh Boy die Hauptstadt oder doch eine ziellose Generation portraitieren will, weiß ich nicht. Vielleicht macht er beides. Zum Vorbild scheint sich Gerster Woody Allens Manhattan genommen zu haben. Die Stadt als Hauptcharakter, die schwarz-weiße Cinematographie, das Jazzmusik – oftmals wirkt Oh Boy geradezu wie eine Hommage an Allens Meisterwerk. Und auch wenn die wohl schönste und rührendste Filmszene des Kinojahres (sie beinhaltet einen Massagestuhl und eine Rentnerin) durch einen unnötigen Witz beendet wird, ist sie doch Teil eines deutsches Films. Das macht Hoffnung.
8/10

Killing Them Softly

Killing Them Softly ist ein politischer Gangster-Film und hat dafür schon Lob verdient. Andrew Dominik (The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford) begibt sich ins Gangster-Milieu von New Orleans. Die Welt steckt mitten in einer Wirtschaftskrise und davon bleiben auch Kriminelle nicht verschont. Die Preise für Auftragsmorde sinken, was dem Repräsentanten (Richard Jenkins) einer nie zu sehenden Mafiaorganisation gerade recht kommt: Nach dem Überfall einer Mafia-Pokerrunde müssen einige Männer getötet werden. Engagiert wird Jackie Cogan (Brad Pitt, Inglourious BasterdsThe Tree of Life), und damit ist das Schicksal aller Beteiligten besiegelt. Killing Them Softly hat absurd-komische Dialoge, großartige Darsteller, brutale Tötungsszenen und durch immer wieder im Hintergrund zu hörende Reden von Obama und Bush auch eine dominante politische Seite. Die einzelnen Komponenten wollen aber nicht so recht zusammenfinden, Dialoge scheinen sich oft mehr der Gesamtaussage des Films als den Charakteren zu unterwerfen, der Film wirkt inkonsistent. Ambitioniert ist das Ganze trotzdem; und spätestens wenn der Killing Them Softly mit den Worten „America’s not a country. It’s just a business. Now fuckin‘ pay me.“ endet, ist die Botschaft auch angekommen.

6/10