September 2012: Liebe in Krisenzeiten und die besten Schauspielerinnen

Anfang September hatte ich noch das Glück, in New York eine große Auswahl an Independent-Filmen zu haben, die es wahrscheinlich nicht so bald ins deutsche Kino schaffen werden. Neben Paul Thomas Andersons The Master entschied ich mich für Sleepwalk With Me und Detropia.

In Sleepwalk With Me darf der Zuschauer den Alltag des Stand-Up-Comedians Mike Birbiglia begleiten. Die Tragikomödie über den anfangs erfolglosen Komiker, der nicht nur in einer Beziehungskrise steckt, sondern auch immer öfter (und gefährlicher) schlafwandelt, erinnert oft an Woody Allen – meist aber an seine eher mittelmäßigen Werke. Hauptdarsteller, Drehbuchautor und Regisseur Birbiglia gelingt zwar ein recht unterhaltsames, autobiographisches Werk; einen eigenen Ton hat er als Filmemacher aber noch nicht gefunden. Nach knapp einem Monat habe ich den Film größtenteils wieder vergessen. Was bleibt übrig? Die Freude, Lauren Ambrose (Six Feet Under) einmal auf der großen Leinwand zu sehen und die angenehm differenziert gezeichnete Beziehungskrise, in der es keinen Schuldigen gibt, sondern nur gelebtes Leben.
6/10

Detropia

Die Dokumentation Detropia zeigt den Verfall von Detroit. Durch die Autoindustrie gedeihte die Stadt rasend schnell – die Bevölkerungszahlen versechsfachten sich im Zeitraum von 1900 bis 1950. Doch bis zum Jahr 2000 verließ die Hälfte der 1,8 Millionen Einwohner die Stadt wieder. Nun ist Detroit der Inbegriff des urban decays; ehemals für das Leben in der Stadt zentrale Gebäude wie der Bahnhof sind sich selbst überlassen. Detropia begleitet einen Vielzahl von Menschen, einen Kneipenbesitzer, eine Bloggerin, ein Künstlerpaar, einen Gewerkschaftssprecher; selbst der Bürgermeister kommt zu Wort. Doch Detropia fehlt das narrative Element. Der Film mäandert durch die Stadt, irgendwie ziellos. Dabei werden oft schöne Bilder eingefangen, zu häufig schweift die Kamera jedoch gen Himmel ab und beobachtet symbolträchtig umherfliegende Vögel. In solchen Momenten zeigt sich, dass Detropia der Fokus fehlt. So bleibt eine spannende Stadt und eine Dokumentation, die unter ihren Möglichkeiten bleibt.
6/10

Zurück in Deutschland startete Mitte September Amour, Michael Hanekes zweiter Cannes-Gewinner in nur drei Jahren. Im Mittelpunkt stehen Georges (Jean-Louis Trintignant) und Anne (Emmanuelle Riva, Hiroshima Mon Amour), ein glückliches Ehepaar um die 80. Nachdem Anne einen Schlaganfall erleidet und fortan halbseitig gelähmt ist, pflegt sie Georges hingebungsvoll – und kann ihr doch nur beim Sterben zusehen. Im Gegensatz zu früheren Werken (Benny’s Video, Funny Games) scheint sich Haneke diesmal wirklich für seine Charaktere zu interessieren; sie sind mehr als Mittel zur Provokation oder Belehrung. Auch kommt Amour nicht so verkopft daher wie noch Das weiße Band. Doch Haneke arbeitet weiterhin höchst konzentriert. Nach einem anfänglichen Konzertbesuch verlässt die Kamera die Pariser Wohnung des Ehepaars nicht mehr. Er zwingt dem Publikum die Beschäftigung mit dem Tod allein schon durch seine langen Kameraeinstellungen auf. Das ist anstrengend, teilweise schmerzhaft, und doch – der Film heißt immerhin Liebe – auch rührend. Und das liegt nicht zuletzt an Trintignant und Riva, deren Schauspielleistungen eine Offenbarung sind.
8/10

Und schließlich sah ich im September erneut Rosemary’s Baby. Der Film an sich ist immer noch phantastisch, doch Ruth Gordon als aufdringliche Nachbarin Minnie Castevet sticht heraus. Der undurchsichtige Charakter ist untrennbar mit Gordon verbunden, ihre Leistung wurde nicht nur mit einem Oscar belohnt, sie schuf auch einen der größten Horrofilmantagonisten, gerade weil sie Minnie Castevet so alltäglich und glaubhaft interpretierte.

Ruth Gordon ließ mich darüber nachdenken, welche Schauspielerinnen mich in einer einzelnen Rolle am meisten beeindruckten. Spontan fielen mir drei Damen ein, doch dann wurde die Liste immer länger. Von Liz Taylor  als keifende Martha in Who’s Afraid of Virginia Woolf über die trauernde Nicole Kidman in Birth bis zu Lesley Manville in Another Year. Oder doch Ellen Burstyn als Suchtopfer in Requiem For A Dream? Und was ist mit nicht englischsprachigen Rollen? Schauspielerinnen wie Hannelore Elsner in Die Unberührbare oder Marion Cotillard als Edith Piaf?

Letztlich blieb ich aber doch bei meinen ursprünglichen drei Schauspielerinnen, hier in chronologischer Reihenfolge der Filme:

Gloria Swanson in Sunset Blvd.

Die alternde Stummfilmschauspielerin Norma Desmond gab Swanson in Sunset Blvd. so überzeugend, dass viele noch heute glauben, Swanson habe sich in erster Linie selbst gespielt. Ihre für jeden an der Geschichte Hollywoods Interessierten sehr zu empfehlende Autobiographie Swanson on Swanson offenbart sie jedoch als intelligente Frau, die nach dem Ende ihrer Schauspielkarriere als Erfinderin, Designerin und Moderatorin weiterhin unbeirrt ihren Weg im Leben beschritt.

Naomi Watts in Mulholland Dr.

Naomi Watts hat in David Lynchs Meisterwerk Mulholland Dr. nicht nur eine Rolle zu spielen. Ihre Betty ist nichts anderes als die unerfüllten Wünsche, die geplatzten Träume von Diane Selwyn. Die beiden Charaktere gibt Watts mit unterschiedlicher Mimik und Körperhaltung. Noch dazu schafft sie es, ein Vorsprechen für einen soapig-dümmlichen Film zu einem der wohl intensivsten Dialoge der Filmgeschichte zu verwandeln.

Mary-Louise Parker in Angels in America

Mary-Louise Parker arbeitet in Angels In America in einem Ensemble ohne Schwächen. Umgeben von Größen wie Al Pacino, Meryl Streep und Emma Thompson in einem an dramatischen Momenten nicht armen Film, ist es ihre Figur Harper, valiumsüchtig und scheinbar hoffnungslos verzweifelt, mit der man am meisten leidet. Und schließlich sind es ihre kindlich-offenen Augen, die eben doch noch einen Funken Hoffnung sehen, die Angels In America nach sechs Stunden zu einem so befriedigendem Ende kommen lassen.

Über Anregungen, welchen Film man allein wegen einer Schauspielerin gesehen haben muss, freue ich mich. Im nächsten Monat folgen dann nicht nur weitere Filme, sondern auch die für mich beeindruckendsten männlichen Schauspieler. Bis dahin, einen schönen Start in den Herbst.