Shame

Als Shame zu Ende war, der Vorhang die Leinwand wieder verdeckte und die Lichter den Kinosaal erleuchteten, bemerkte ich, dass ich starke Kopfschmerzen hatte. Ob die nun vom Film verursacht wurden oder unabhängig davon entstanden, weiß ich natürlich nicht; doch die Schmerzen passten zu Shame, einem Film, der intensiver und emotional brutaler kaum sein könnte.

Der bei den Oscars übergangene Michael Fassbender (Jane Eyre) gibt den Mittdreißiger Brandon Sullivan, der in New York in einem modernen, kühlen Apartment lebt und erfolgreich in seinem (nicht näher spezifizierten) Job arbeitet. Doch in seinem Leben dreht sich alles um Sex: Er masturbiert morgens unter der Dusche, dann später im Büro, seine Computer sind voll von Pornos, er schläft mit Prostituierten und Barbekanntschaften, selbst auf dem Weg ins Büro hält er Ausschau nach der nächsten Bettgefährtin. Dann steht plötzlich seine Schwester Sissy, gespielt von der wundervollen Carey Mulligan (An Education, Never Let Me Go, Drive) in seiner Wohnung, sie will eine Weile bei ihm bleiben. Sissy ist nicht so kontrolliert wie Brandon, sie lässt ihren Gefühlen freien Lauf. In einem Moment ist sie ekstatisch, im nächsten der Verzweiflung nahe. Das Zusammentreffen zwischen Brandon und Sissy tut keinem von beiden gut: All ihre Fehler, all ihre Unzulänglichkeiten sind dem jeweils anderen bekannt und können nicht mehr versteckt werden. Brandon flüchtet vor sich selbst, manchmal läuft er tatsächlich, doch meistens ist seine Flucht der Sex. Dafür schämt er sich nicht nur, er hasst sich regelrecht. Und Sissy will vor allem dazugehören, sie will leben, lieben und als Sängerin Erfolg haben. In einer berührenden Szene singt sie „New York, New York“ herrlich melancholisch. Sie träumt von einem Leben, das sie nicht auf die Reihe kriegt – und Brandon kann eine Träne nicht unterdrücken.

„We’re not bad people. We just come from a bad place“ – Sissy

Regisseur Steve McQueen, der zuvor mit Fassbender das IRA-Drama Hunger realisierte, ist weise genug, genaue Ursachen für den Zustand von Brandon und Sissy auszusparen. Er zeigt zwei auf ihre Art einsame Menschen, die, vielleicht aufgrund ihrer Vergangenheit, am Leben scheitern. McQueen benötigt für seine Charakterstudie wenige Dialoge, seine Bilder sind kraftvoll genug. Eines blieb mir besonders im Kopf: Brandon ist nur noch ein Wrack, er hat Sex mit zwei Frauen. Die Körper interessieren McQueen bald nicht mehr, er fokussiert auf Brandons Gesicht beim Orgasmus. Von Lust ist in seinem Gesicht keine Spur, es ist schmerzverzerrt, voller Verzweiflung.

Shame hat es geschafft, mich diese Schmerzen spüren zu lassen, nicht nur als Kopfschmerzen. McQueen gelang ein großer Film, den wohl kaum einer zwei mal sehen will.

9/10