The Savages

Jon und Wendy Savage (Philip Seymour Hoffman und Laura Linney), beide um die 40, haben ihren Vater Lenny (Philip Bosco) seit Jahren nicht gesehen. Während der Kindheit hat er sie schlecht behandelt, die Mutter ist irgendwann abgehauen. Doch nun ist Lenny dement und hat Parkinson, so dass die beiden beginnen müssen, Verantwortung zu übernehmen.

In „The Savages“ nimmt sich Regisseurin Tamara Jenkins den ernsten Themen der Altenpflege, des Dementwerdens und auch des Sterbens von Elternteilen an. Überraschenderweise macht sie daraus weniger einen Film über das Abschiednehmen als über das Erwachsenwerden. Die aus den schwer verdaulichen Themen resultierende Trostlosigkeit durchzieht sie dabei immer wieder mit wunderbarem Humor, der nie unangebracht wirkt.

Meine Faszination für „The Savages“ ergibt sich in erster Linie durch die feine Charakterzeichnung: Wendy und Jon sind in keiner Weise perfekt. Wendy hat einen Bürojob, der sie nicht glücklich macht. Sie schreibt semi-autobiographische Theaterstücke, für welche sie allerdings keine Finanzierung bekommt. Schon von ihrem Vater wurde ihr Talent nie geschätzt. Ihr „Freund“ ist einer verheirateter Mann, sie schluckt diverse Pillen gegen Ängste, Depressionen und Schmerzen. Jon lehrt an einem College und ist mit der Publikation eines Buches über Brechts „Episches Theater“ beschäftigt. Seit mehr als drei Jahren ist er mit der Polin Kasia liiert, welche wegen eines auslaufenden Visums zurück nach Polen muss. In seiner Kindheit wurde er von seinem Vater geschlagen und distanzierte sich seitdem von Emotionen, von Beziehungen. So ist es ihm auch unmöglich, Kasia zu heiraten, damit sie bei ihm bleiben kann.

Brechts „Episches Theater“ will eine Distanz zwischen Publikum und Bühne schaffen, die es dem Zuschauer ermöglicht, das Geschehen zu hinterfragen und darüber nachzudenken. Im Gegensatz zum Dramatischen Theater in der Tradition von Aristoteles werden Gefühle größtenteils vermieden. Jon lebt zu Beginn die Vorstellung vom epischen Theater. Die Wandlung seines Charakters wird in einer Szene besonders schön veranschaulicht: Wendy inszeniert ein Theaterstück über ihre Kindheit; auf der Bühne ist zu sehen, wie der Vater (Lenny) das Kind (Jon) in der Küche verprügelt. Das Kind reagiert aber kaum darauf, sondern fliegt einfach davon, es distanziert sich vom Geschehen. Mit Jon, der die Probe der Szene beobachtet, passiert genau das, was im Brechtschen Theater nicht passieren sollte: Er wird emotional berührt und überwindet die Distanz zu seinen Gefühlen.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Protagonisten ihre Vornamen mit den Darling-Geschwistern aus „Peter Pan“ teilen. Im Nimmerland haben diese die Chance, immer Kind zu bleiben; doch genau wie die beiden Kinder erkennen Jon und Wendy in „The Savages“, dass sie erwachsen werden müssen. Ein perfektes Leben werden die beiden allzu schnell wohl nicht haben, aber immerhin machen sie erste Schritte, um ihre Angelegenheiten zu ordnen und Verantwortung zu übernehmen.

Zum Leben erweckt werden die Charaktere von dem immer großartigen Philip Seymour Hoffman (Doubt, The Boat That Rocked, Synecdoche, New York) und der wunderbaren Laura Linney (You Can Count On Me, Kinsey), die hierfür ihre dritte Oscarnominierung erhielt. Ihr Spiel wirkt so natürlich, dass ich mir wünsche, mehr von Jon und Wendy Savage kennenzulernen.

„The Savages“ ist ein leiser, ehrlicher Film, in dem zwar nicht viel passiert, dessen Charaktere ihm aber dafür aber umso mehr Leben einhauchen. Bitte mehr davon!

9/10