Magnolia

In meinem Kopf hatte ich Paul Thomas Anderson nach dem kolossalen There Will Be Blood direkt in die Kategorie „großartiger Regisseur“ gesteckt, ohne auch nur einen seiner anderen Filme gesehen zu haben. Um das Versäumnis nachzuholen nahm ich mir „Magnolia“ vor – Andersons nicht weniger epochalen, mehr als dreistündigen Episodenfilm über unglückliche, teilweise gar verzweifelte Menschen im San Fernando Valley Kaliforniens. Und tatsächlich: Anderson (Boogie Nights) schuf ein Meisterwerk, wenn auch nicht ganz frei von kleinen Makeln.

Nach einem Epilog über die Macht des Zufalls lässt Anderson die Kamera über ein Vielzahl von Figuren kreisen: Da gibt es Earl Partridge (Jason Robards), der auf seinem Todesbett Reue zeigt, weil er vor 20 Jahren seine sterbende Frau und seinen Sohn im Stich gelassen hat. Seine neue, viel jüngere Frau Linda (Julianne Moore, Far From Heaven, A Single Man, The Kids Are All Right) kommt mit seinem anstehenden Tod nicht zurecht; sie scheint an ihrer Verzweiflung zugrunde zu gehen und betäubt sich mit Drogen und Medikamenten. Frank T.J. Mackey (Tom Cruise) ist ein erfolgreicher Selbsthilfe-Guru für Männer. Sein Motto: „Respect the cock and tame the cunt!“ Doch ein Interview mit einer Reporterin (April Grace) offenbart, dass seine Familiengeschichte eine Lüge ist und ihn die Vergangenheit auffrisst. Ebenso ein Trugbild ist das Leben von Jimmy Gator (Philip Baker Hall), Moderator einer seit Jahrzehnten erfolgreichen Quizshow, der nach außen das Ideal der heilen Familie aufrechterhält, nun aber – sein Krebstod steht kurz bevor – auf Vergebung hofft; Vergebung von seiner Frau Rose (Melinda Dillon), aber auch von seiner Tochter Claudia (Melora Walters), die seit langem nicht mehr mit ihrem Vater spricht. Claudia ist ein psychisches Wrack; sie ist einsam, wirkt zutiefst verstört und verbringt ihre Tage kokainschnupfend in ihrer abgedunkelten Wohnung. Und dann gibt es noch zwei Genies: Stanley Spector (Jeremy Blackman) ist ein Wunderkind, das Teilnehmer in Jimmy Gators Quizshow ist. Doch nicht er, sondern sein ehrgeiziger Vater Rick (Michael Bowen) scheint geradezu besessen vom Erfolg bei der Show zu sein. Donnie Smith (William H. Macy, Fargo) war in den 60ern das Wunderkind in Jimmy Gators Show. Doch heute ist vom Erfolg nichts mehr übrig: Er ist unglücklich in einen Zahnspange-tragenden Barkeeper verliebt und wird von seinem Chef Solomon Solomon (Alfred Molina, An Education) auch noch gefeuert.

Linda (Julianne Moore) und Earl Partridge (Jason Robards)

Die Figuren in „Magnolia“ sind geprägt von Lebenslügen und Selbstvorwürfen, sie verletzen und missbrauchen ihre Mitmenschen, sie sind auf der Suche nach Vergebung. Gerade die Väter sind es, die das Leben ihrer Kinder – wenn auch unabsichtlich – zu zerstören scheinen. Doch Anderson blickt nicht nur in die Abgründe menschlichen Verhaltens, er schenkt auch Hoffnung: Phil Parma (Philip Seymour Hoffman, The Savages, Doubt, Mary & Max), Earls Pfleger, kümmert sich rührend um den sterbenden Mann. Und Jim Kurring (John C. Reilly, Chicago), ein religiöser Polizist, sieht seine Aufgabe darin, Menschen zu helfen – und verliebt sich in Claudia.

Claudia (Melora Walters)

Gerade zu Beginn inszeniert Anderson seinen Film ruhelos, treibt die Geschichte von der einen Figur zur nächsten, von einem Ort zum anderen, steigt immer weiter hinab in die Tiefen der Charaktere. Jon Brions oftmals dramatische Musik unterstreicht die Größe des Films und erzeugt eine unruhige Spannung. Was sich Anderson dann in der letzten halben Stunde erlaubt, scheidet die Geister, ist aber ein wesentlicher und unbedingt nötiger Bestandteil von „Magnolia“. Ob das ungewöhnliche Wetterphänomen nun Zeichen einer größeren Instanz oder doch nur – wie der Epilog nahelegt – ein großer Zufall ist, muss jeder für sich entscheiden. Die Figuren aber setzen ihre Probleme in neue Relationen, vielleicht weil sie göttliche Zeichen erkennen, vielleicht weil ihnen klar wird, welch kleiner Teil des großen Ganzen sie letztendlich sind.

„Magnolia“ ist ein großer, manchmal größenwahnsinniger Film, ein Strudel menschlicher Fehler und Schmerzen. „Magnolia“ ist ein Meisterwerk und doch nicht ganz perfekt. In einer Szene beginnen nahezu alle Figuren zu Aimee Manns „Wise Up“ zu singen. Thematisch passt das Lied in den Film, doch die Szene wirkt deplatziert, sie reißt den Zuschauer aus der Handlung und ist dadurch fast schon peinlich. Ohne dieses unpassende Intermezzo hätte es die Höchstwertung gegeben, so bleiben noch

9/10.